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Ohne Trauschein: Scheidung, nicht Ehe ängstigt

Die Vorstellung einer späteren Scheidung hält viele Paare davon ab, einander das Jawort zu sagen. Das berichten Soziologen der Cornell University und der University of Central Oklahoma in der Zeitschrift "Family Relations". Zwei Drittel der befragten Paare ohne Trauschein gaben an, aufgrund der sozialen, legalen, emotionalen oder ökonomischen Folgen einer Scheidung Bedenken gegenüber der Ehe zu haben. Demografen sehen den noch laufenden Gesellschaftswandel als Hauptgrund, Sexualtherapeuten die Angst vor der Verbindlichkeit.

Babys kaum mehr Trauungshelfer

Die Erosion der Ehe ist vor allem durch den Gesellschaftswandel bedingt, betont Michaela Kreyenfeld vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung im pressetext-Interview. "Zwänge der Gesellschaft und die konfessionelle Bindung nehmen ab, die Berufstätigkeit und finanzielle Unabhängigkeit der Frau wird Regel und die Akzeptanz nichtehelichen Zusammenlebens steigt in Zeiten der Individualisierung", so die Expertin.

Immer mehr entkoppelt sich Ehe von der Familiengründung. "In Skandinavien liegt der Anteil von Kindern, deren Eltern bei der Geburt nicht verheiratet waren, bei über 50 Prozent, in Ostdeutschland sogar bei über 60 Prozent. In traditionell geprägten Ländern wie etwa Italien ist dieser Anteil noch vergleichsweise niedrig." Angst vor der Scheidung spielt vor allem bei schlecht qualifizierten Frauen eine Rolle, deren Partner zwar den Kinderwunsch erfülle, jedoch nicht als geeigneter Lebensbegleiter erscheint, bestätigt Kreyenfeld die US-Ergebnisse.

Sorge um Ablaufdatum

Dass sich Paare heute seltener trauen als je, ist für die Sexualtherapeutin Gerti Senger Ausdruck eines Traditionsverlustes. "Die Ehe verliert an Wert, ähnlich wie dies bei gemeinsamen Festen oder dem Sonntagessen in der Familie zu beobachten ist. Charakteristisch für unsere Zeit ist die Unverbindlichkeit. Wenn es eine Hochzeit gibt, steht oft der Eventcharakter im Vordergrund, nicht Verbindlichkeit."

Ängste bei den Paaren erkennt auch Senger. Meist seien diese jedoch nicht finanzieller Natur, ist doch das Aufsetzen eines scheidungsgerechten Ehevertrags kein Problem. "Woran viele nicht mehr glauben, ist die Haltbarkeit von Beziehungen. Viele fühlen sich kraftlos, können nicht kämpfen und Tiefs nicht durchstehen. Man einigt sich auf den Kompromiss, auseinander zu gehen, wenn es nicht mehr geht. Die Haltung 'dafür brauche ich keinen Schein' ist deshalb oft Zeichen von Schwachheit."

Ritual und Bekenntnis

Obwohl demografisch noch nicht erfassbar, ortet die Wiener Psychotherapeutin dennoch seit kurzer Zeit einen Bedeutungswandel der Ehe. "Schöne Hochzeiten sind wieder gefragt. Zunehmend wird bewusst, dass die Zeremonie auch ein spirituelles Erlebnis mit emotionalem Tiefgang ist. Sie wird wieder als Bekenntnis nach Außen wahrgenommen, das einen Umbruch anzeigt und erleichtert. Das Leben und erst recht die Paarbeziehung brauchen Rituale, die Identität schaffen." Senger hat diese Entwicklung im jüngst erschienenen Buch "Schräglage" beschrieben.

Quelle: pte

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