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Spiel mir das Lied fürs Kind
Wiegenlieder hat es vermutlich in allen Sprachen und zu allen Zeiten gegeben. Die meisten Kinder lieben es, sich in einem immer gleichen Ritual mit Gesang in den Schlaf begleiten zu lassen. Aber viele Wiegenlieder sind heutzutage längst vergessen. Und die, an die man sich noch erinnert, nerven spätestens nach dem zehnten Vorsingen unsäglich. Dabei sind Alternativen doch reichlich vorhanden.
Als meine Lebensgefährtin unser erstes gemeinsames Kind erwartete, habe ich so viele Bücher zu Babys und Kindererziehung gewälzt wie ich auftreiben konnte. Und in den meisten stand ungefähr dasselbe, zum Beispiel: „Singen Sie Ihrem Kind schon im Mutterleib vor, um es an ihre Stimme zu gewöhnen – dann schläft es später leichter ein.“
Gut, dachte ich, warum denn nicht. Singen bekomme ich hin und wenn es was hilft, mach ich es halt. Aber was singt man da am besten. Der Mond ist aufgegangen? Habe ich bis zur Hälfte der dritten Strophe hinbekommen, dann war Schluss. Danach habe ich gründlich überlegt… und festgestellt, dass ich zwar einige deutsche Schlaflieder ein bisschen kenne, mich aber selbst das kleine bisschen nach kurzer Zeit schon nervt. Macht nichts, dachte ich, gibt ja noch andere Musik.
Andere Musik, das bedeutet: Radiomukke, Platten von früher, CDs von heute, Rap, Pop und Rock’n’Roll. Die nervt bei weitem nicht so schnell. Aber was davon ist vorsingbar und welche Lieder hat man noch komplett im Kopf? Die Antwort auf beide Fragen ist leider die gleiche: Die wenigsten! Bei der Suche nach singbarem, kindertauglichem Material muss man in jedem Fall kompromissbereit sein. Boyband Schnulzen lassen sich beispielsweise viel besser vorsingen als Rockklassiker von AC/DC – ganz unabhängig davon, ob sich das mit dem persönlichen Geschmack des Vorsingers deckt. Und auch wenn man selbst das Black Album von Jay-Z total feiert, klappt diese Art von Musik nun einmal keinem Kind die Augen zu.
Meistens sind es Balladen, die sich für Schlaflieder eignen. Er verlässt sie, sie liebt einen anderen, das Leben ist grausam, die Welt ist schlecht. Gut, dass die Kleinen das noch nicht wirklich verstehen. Und wenn man sie dann gefunden hat, diese tieftraurigen, gut vorsingbaren Balladen, kann man ihren Text entweder kaum oder gar nicht.
Also heißt das Text lernen, wie früher in der Schule. Nicht gerade Wanderers Nachtlied, aber dafür Leonard Cohen oder Robbie Williams. Gar nicht so einfach. Ganz schwierig wird es, wenn Sie versuchen, deutschsprachige Lieder zum Vorsingen zu finden. Zum einen ist die Auswahl beileibe nicht so groß wie bei englischen Songs. Zum anderen verstehen ihre Kinder irgendwann, was Sie da eigentlich singen. Und wenn Sie jetzt kurz ihre Gedanken durch die ihnen bekannten deutschsprachigen Popsongs der letzten zehn Jahre schweifen lassen, werden Sie feststellen, dass dies nicht zwingend gut ist. Trotzdem freuen sich Kinder, wenn man ihnen auch auf Deutsch vorsingen kann. Irgendwann stimmen sie sogar mit ein und begleiten ihr eigenes Schlaflied.
Zum Schluss müssen Sie auch noch lernen, ihr eigener Produzent zu sein und diese ganzen Lieder im Kopf zu behalten. Für das erste brauchen Sie bloß ein wenig musikalisches Gespür und ein Quäntchen Dreistigkeit. Ändern Sie die Lieder einfach so wie es Ihnen passt. Text, Geschwindigkeit, was auch immer. Nur weil Herbert Grönemeyer „Nordisch nobel deine sanftmütige Güte“ knödelt, brauchen Sie es ja nicht genauso machen. „Wo wär ich nur ohne deine sanftmütige Güte?“ ohne Kehlkopfpressen tut es auch. „Nordisch nobel“ – also bitte!
Für das zweite brauchen sie eine Liste. Eine Liste mit all den Anfangszeilen (Titel sind nutzlos) der Lieder, die Sie ihren Kindern und Ihrem Nervenkostüm zuliebe auswendig gelernt haben.
Und das beantwortet auch die wichtigste Frage? Warum sollte ich mir das antun? „Licht aus, geh ins Bett!“ wird doch wohl reichen, oder nicht? Nein, eher nicht. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden Sie dann andere Dinge tun müssen, weil Sie nicht singen wollen. Aushalten, dass ihr Baby eine Weile schreit, wenn Sie es schlafen legen. Und wenn es älter ist, sind es statt Lieder dann Nachtlichter, offene Türen, noch mehrmals was trinken oder auf Toilette müssen, dutzende Kuscheltiere, Hörspiele und dergleichen mehr.
Dann doch lieber singen. Denn so viel sei zur abschließenden Rechtfertigung meines akribischen Schlafliedwahnsinns noch gesagt. Wenn meine beiden Zwerge wegen meiner Singerei schon längst schliefen, haben mich manchmal Freundinnen angerufen und mich voller Verzweiflung gefragt, ob ich nicht noch vorbeikommen könnte, um endlich, ENDLICH ihr Kind zum Schlafen zu bringen mit was auch immer ich da immer mit meinen mache. Sie hätten beobachtet, dass ich, wenn sie bei uns abends zum Essen eingeladen waren, immer nur ein paar Minuten brauchen würde, um die Kinder ins Bett zu bringen.
Dass es mehr braucht, als ein paar Minuten, wissen Sie ja jetzt. Sie müssen schon ein bisschen verrückt sein.
Momentane Top 3 meines fünfjährigen Sohnes:
1. Walzer für Niemand (Sophie Hunger)
2. Mit jedem deiner Fehler (Philip Poisel)
3. Last thing on my mind (Ronan Keating)
Momentane Top 3 meiner siebenjährigen Tochter:
1. Kite song (Patty Griffin)
2. Breathe again (Sara Bareilles)
3. The saddest song I’ve got (Annie Lennox)
All time favorite von beiden: Gabriel (Lamb)
– Ersetzen Sie Gabriel einfach durch den Namen ihres Kindes
PS:
Mit Musik kann man sich übrigens auch wunderbar lange Autofahrten kurzweiliger gestalten. Spielen Sie mit Ihren Kindern einfach eine Runde Rate das Lied! Summen oder pfeifen Sie Lieder vor, von denen Sie wissen, dass ihre Kleinen sie auf jeden Fall kennen. Wer sich als erster an den Titel oder einen Textausschnitt erinnert, ist als nächstes dran.
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Über den Autor: Nils Pickert ist gebürtiger (Ost-)Berliner, lebt und arbeitet als freier Autor und Texter in Süddeutschland. Er ist passionierter Koch und Vater zweier Kinder.
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