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Familieninfarkt
Familien sollen ja heutzutage alles sein. Keimzelle der Gesellschaft, Hort der Freude, Bildungsstätte, Glücksgarant. Bei solch überzogenen Ansprüchen ist es ja kein Wunder, wenn sich die Ausfälle mehren.
Sind Sie auch mit Eltern befreundet, die derartig gestresst sind, dass Ihnen jedes Telefonat vorkommt wie ein Anruf in ein Kriegsgebiet? Wo Ihnen in einer nicht abbrechenden Kette von Chaos, Katastrophen und Kollateralschäden berichtet wird, ohne dass Ihnen auch nur eine einzige Frage zu Ihnen und Ihrem Familienleben gestellt wird. Publikumsmonologe also, die durch die mittlerweile branchenüblichen Festnetzflatrates noch beträchtlich in die Länge gezogen werden. Ich jedenfalls bin mit einigen dieser Leute befreundet. Allesamt liebevolle, intelligente, hilfsbereite Menschen, die die Organisationslast und den Stresspegel der Vorstände von vier börsennotierten Unternehmen allein bewältigen müssen, ohne auch nur eine Sekunde dafür Zeit zu haben, sich zu überlegen, was sie da eigentlich genau tun. Diese Freunde tun mir gleichzeitig leid und hinterlassen in mir den Anflug eines schlechten Gewissens, weil ich in meinem Familienleben noch dazu komme, halbwegs geradeaus gucken zu können. Außerdem vermisse ich sie als Teil meines Lebens, weil sie ja noch nicht einmal dazu kommen, Teil ihres eigenen Lebens zu sein. Und ich will ihnen helfen.
Das Problem ist: Eltern, die immer kurz vor dem Familieninfarkt operieren lassen sich nur äußerst ungern helfen. Irgendeine moralische Stütze muss sie ja durch den ganz alltäglichen Wahnsinn tragen und allzu oft besteht sie darin, dass man sich selbst und gegenseitig versichert, auf gar keinen Fall über andere Optionen zu verfügen. Die Kinder rasten vollkommen aus, weil sie jede Woche eine ganz neue Form von familiärem Zusammenleben und Termingestaltung lernen müssen? Ist eben so, lässt sich nicht ändern. Die Eltern sehen sich praktisch überhaupt nicht mehr und haben ihr einstiges Paarleben längst als eine Art Zwecks- und Funktionsgemeinschaft umdefiniert? Was soll man machen?
Solchen Freunden darf man Hilfe nicht anbieten. Stattdessen muss man vor dem Hintergrund, dass man sie gerne noch eine Weile bei passabler Gesundheit und als Paar erleben wollen würde, das Recht auf Hilfe einfordern. Also keine Frage- sondern Ausrufezeichen: Nehmt unser Auto! Lasst uns eure Kinder da! Wir laden euch zum Essen ein! Wenn das nicht hilft, bleibt nur noch Daumendrücken. Manche Paare erwachen nach Monaten oder Jahren wie aus einem Alptraum und stehen wie durch ein Wunder vor ihrer noch nicht ganz zertrümmerten Beziehung.
Bei einigen Paaren bin ich mir jedoch nicht sicher, ob sie überhaupt Willens sind, das Stadium des drohenden Familieninfarkts zu verlassen. Bei allen Widrigkeiten und Leidensbekundungen – manche Menschen funktionieren nur am Abgrund und halten andere nur an Abgründen aus. Falls Sie also ein Elternpaar schon in so einem Zustand kennengelernt haben, denken Sie mal drüber nach. Und wenn Sie selbst Teil einer solchen Konstellation sind, also immer am Limit, immer im Dispo und, immer mit einer Million Sachen gleichzeitig beschäftigt. Hören Sie auf damit! Klar ist das beinahe unmöglich.
Aber was glauben Sie eigentlich, wie unmöglich die Rechnung zu begleichen ist, die Ihnen Ihr Körper, Ihr/e Partner/in, Ihre Kinder oder Ihre Sozialkontakte in absehbarer Zeit stellen werden?
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Über den Autor: Nils Pickert ist gebürtiger (Ost-)Berliner, lebt und arbeitet als freier Autor und Texter in Süddeutschland. Er ist passionierter Koch und Vater zweier Kinder.
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