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Wie langweilig!
Für Kinder ist Langeweile schier unerträglich. Nur für die Eltern dieser Kinder ist es oft noch unerträglicher. Sie dauerbeschäftigen ihren Nachwuchs so lange, bis der sich zu gar nichts mehr alleine motivieren kann. Indem sie die manchmal furchtbare Langeweile rigoros bekämpfen, erzeugen sie noch etwas Schlimmeres: Permanente mäßige Langeweile!
Wann haben Sie sich eigentlich das letzte Mal so richtig gepflegt gelangweilt? Vielleicht beim Tatort mit Til Schweiger, weil Sie Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin fest versprochen hatten, mal wieder einen gemütlichen Sonntagabend vor dem Fernseher zu verbringen. Oder in den letzten Weihnachtsfeiertagen, als Sie Ihren Verwandten dabei zusehen mussten, wie sie es in maximal zehn Minuten geschafft haben, ein unverfänglichen Gespräch mit Ihnen in einen Streit miteinander zu verwandeln? Drei, zwei, eins: „Wie kannst du so etwas nur behaupten?! Immer musst du…“
Das gemeine an solchen Situationen ist, dass man keine Möglichkeit hat, sich der Langeweile zu entziehen. Höflichkeit, Schicksal und das schlechte Gewissen scheinen sich zu solchen Gelegenheiten verabredet zu haben, um in Ihrem Kopf einen drauf zu machen. Es passiert also nicht nur gar nichts, sondern es passiert etwas, was Sie ungefähr genauso stark interessiert wie gar nichts, dass Sie aber zugleich entsetzlich nervt und bei dem Sie nicht einmal die allerkleinste Chance sehen zu entkommen, um endlich wieder den Kopf freizubekommen.
Können Sie es sich vorstellen? Dann verzehnfachen Sie dieses Gefühl: Lassen Sie die Zeit vor Ihren Augen zu einer zähen, breiigen Masse gerinnen, in der sich jede Idee, was man irgendwann wieder mal machen könnte, auflöst. Legen Sie gedanklich Ihr ultimatives Lieblingshasslied auf und lassen Sie es in einer Endlosschleife laufen, während Sie auf eine Vielzahl von Imagespots für Autohersteller starren, die sich alle voneinander nur um eine Winzigkeit unterscheiden. Es juckt Sie an der Nase, aber Sie können sich nicht kratzen. Und falls in Ihrem Kopf auch nur ein Anflug von Ideenrest verblieben ist, wie man diesem Grauen entfliehen könnte, spüren Sie, dass Sie deshalb ein schlechtes Gewissen haben müssen.
Genau so ist Langeweile für Kinder. Sie ist ein schwerer, nicht enden wollender Schatten, der sich auf alles legt – und damit etwas ganz anderes als für Erwachsene. Wir großen Leute haben im Laufe des Heranwachsens eine Strategie entwickelt, die es uns erlaubt, dem kindlichen Eindruck der totalen Langeweile zu entwischen, indem wir uns um die Möglichkeit eines perfekten Moments bringen und uns auf einem mäßig interessanten, beziehungsweise uninteressanten Level einpendeln. Die Langeweile, die wir aushalten müssen quält uns nicht so sehr, weil wir Methoden entwickelt haben, uns davor zu schützen: Wir lesen ein schlechtes Buch, schauen einen mittelmäßigen Film oder führen vorhersehbare Gespräche. Gleichzeitig nehmen uns diese Mittel schließlich so sehr gefangen, dass sie zum eigentlichen Zweck werden. Wir führen keine Smalltalks mehr, um unseren Geist vor einer entsetzlich langweiligen Party zu schützen. Stattdessen haben wir uns angewöhnt, bei solchen Gelegenheiten ohne Umschweife nichtssagende Gespräche zu inszenieren und versagen damit uns und unserem Gegenüber die Möglichkeit, eine besondere Unterhaltung zu führen. Wenn es dann doch einmal zufällig dazu kommt, sind wir vollkommen überrascht und aus dem Häuschen.
Für Kinder liegen beide Möglichkeiten viel näher. Entweder an Langeweile zu ersticken oder einen unfassbar guten Augenblick zu haben. Leider ist dieses Prinzip in letzter Zeit durch uns etwas aus den Fugen geraten. Wir haben damit begonnen, unsere Kinder doppelt zu betrügen. Indem wir ihren Tagesablauf immer straffer planen und die Kindheit mehr und mehr als Wartesaal zum Erwachsenenleben betrachten, in welchem ein Kind sich möglichst sinnvoll und produktiv zu beschäftigen hat, schützen wir sie zwar auch vor dem schwarzen Loch der Langeweile, aber stehlen ihnen zugleich die Fähigkeit, etwas als perfekt wahrzunehmen. Darüber hinaus verwehren wir ihnen den ganzen Unsinn, mit dem wir so gerne unsere Zeit verplempern: Fernsehen, Computerspielen, Abhängen. Denn im Grunde wissen wir ja, wie dumm wir uns verhalten, können uns aber nicht dazu aufraffen, es anders zu machen. Und wenn wir schon ein schlechtes Gewissen haben, sollte einer dafür geradestehen müssen. Also nehmen unsere Kinder all die Ballett-, Klavier- und Schwimmstunden, die wir nie hatten, weil wir mit unseren Freunden oder Geschwistern eine Bande gegen die Nachbarskinder gemacht haben. Wir spielen mit ihnen Brettspiele, verabreden sie mit anderen Kindern oder schlagen ihnen vor, was sie machen könnten, weil wir ihr Genöle und ihr Leiden an der Langeweile nicht ertragen wollen. Wir finden, sie müssten ihre Zeit besser nutzen – und anschließend wundern wir uns darüber, dass sich unsere Kinder lustlos von einer Situation zur nächsten schleppen und fragen uns, woran uns dieses dumpfe Geschluffe erinnert. Ach ja richtig: An uns nach einem langen Arbeitstag. An einen dieser Tage, wo man sich zu nichts mehr so richtig aufraffen kann. Es gibt die Reste vom Vortag, dass Programm von letzter Woche und die Vorsätze vom letzten Jahr. Wir ziehen unseren Kindern unsere Schuhe an, ohne dass sie darin laufen könnten. Wir haben uns nämlich unser Rumlungern redlich verdient. Sie hingegen müssen noch… sollten mal wieder… bräuchten unbedingt…
ihre Kindheit zurück. Inklusive der furchtbaren, unerträglichen Langeweile, die wir ihnen aus egoistischen Gründen ersparen wollen. Nur wenn sich Langeweile fies und ausweglos anfühlt, fallen einem die richtig guten Sachen ein. Sachen von denen man noch nach Wochen mit seinen Freunden flüstert oder nach Jahren seinen eigenen Kindern erzählt. Sachen die einem auch nach sehr langen Arbeitstagen helfen, noch einmal von der Couch hochzukommen und die Glotze auszuschalten. Lassen wir unseren Kindern dieses Gefühl. Denn auch wenn wir es vergessen haben mögen. Der Unterschied zwischen „Ich weiß gar nicht, was ich machen soll!“ und „Wer weiß, was noch alles passieren kann“ ist so entscheidend aber gering, dass sich das eine jederzeit in das andere verwandeln kann. Ganz sprunghaft. So wie Kinder eben sind.
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Über den Autor: Nils Pickert ist gebürtiger (Ost-)Berliner, lebt und arbeitet als freier Autor und Texter in Süddeutschland. Er ist passionierter Koch und Vater zweier Kinder.
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