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Böse Menschen, überall!
Glaubt man den Medien und besorgten Eltern, muss jederzeit mit dem Schlimmsten gerechnet werden und wer seine Kinder darauf nicht vorbereitet, ist selber schuld. Dabei heizt gutgemeinte Paranoia zusammen mit Leistungsdruck und Konsumterror nur noch mehr die Pfanne an, in der die Kindheit unseres Nachwuchses zusammenschmilzt.
Kleine Kinder können ja ziemlich direkt sein. Mein fünfjähriger Sohn sprach vor einigen Tagen zum Beispiel einen ausgesprochen korpulenten Biker darauf an, dass es doch vielleicht klüger wäre, mit seinem dicken Bauch das Motorrad nicht zu besteigen, da es andernfalls kaputt gehen könnte. In solchen Momenten schäme ich mich immer ein bisschen. Es gibt allerdings auch Situationen, in denen ich für seine unverstellte Art, die Dinge gerade so wie es ihm einfällt beim Namen zu nennen, ausgesprochen dankbar bin. So wie neulich. Da saß ich auf einem weitläufigen Spielplatz und mein kleiner Mann tat das, was er am liebsten macht und rumstrolchen nennt: Überall hingehen, alles angucken und anfassen, jeden der interessant aussieht ansprechen. Und so verwickelte er ein Elternpaar in ein Gespräch, während mir ein Mädchen ungefähr in seinem Alter stolz ihre neuesten Grimassen vorführte. Plötzlich hörte ich ihn aus vollem Hals entrüstet rufen: „Das ist doch kein böser Mann, das ist mein Papa! Und überhaupt, wie viele böse Menschen kennst du eigentlich, hmm?“ Auf dem Nachhauseweg hat er es mir dann erzählt: Das Mädchen gehörte zu dem Elternpaar und die Mutter war wohl gerade dabei, ihre Tochter von mir wegzuholen, weil, wie sie sagte, sie nicht möchte, dass ihr Kind mit Fremden spricht. Das könnten ja böse Menschen sein, die ihr schlimme Dinge antun würden.
Mir kam das Ganze einigermaßen absurd vor. Selbstverständlich hat diese Mutter das Recht, den Umgang ihres Kindes mit anderen Erwachsenen zu regulieren. Aber in was für einer Welt wächst dieses Mädchen denn auf, wenn sie nicht einmal in Sichtweite der eigenen Eltern mit einem anderen Kontakt aufnehmen darf? Oder um die Frage meines Sohnes an Sie zu richten: Wie viele böse Menschen kennen Sie eigentlich? Meine eigenen Erfahrungen sind da sehr limitiert, aber vielleicht bin ich ja auch zu behütet aufgewachsen oder zu blauäugig. Den Kindern meiner Freunde und Bekannten ist nie etwas Dramatisches zugestoßen. Ihnen wurde nicht in Parks aufgelauert und sie sind nicht auf dem Schulweg entführt worden. Sie wurden nie von der Polizei nach Hause gebracht und leben auch sonst in einem stinknormalen Gefahrenpotential: Autounfälle? Immer möglich aber aus Mobilitätsgründen haben wir uns irgendwie damit abgefunden. Wunden, Stürze, Knochenbrüche? Werden aller Voraussicht nach stattfinden und man kann nur hoffen, dass es nicht zu dramatisch wird. Wahnsinnige Axtmörderin/diabolischer Sexualstraftäter? Gibt es leider, zweifellos. Und es ist sicher auch sinnvoll, Kinder darauf hinzuweisen, dass es Menschen gibt, die ihre Arglosigkeit, ihre Unschuld und ihre makellosen kleinen Körper ausnutzen wollen würden. Allerdings sollte man dabei die Wahrscheinlichkeiten nicht aus dem Auge verlieren, sonst läuft man Gefahr, die Welt seiner Kinder zu einem Schreckensgebiet zu verzerren. Wobei es nicht leicht ist, die Nerven zu behalten. Wenn es nach den Medien geht, leben wir, obwohl die Statistiken zu Gewaltverbrechen und Sexualdelikten an Kindern und Jugendlichen seit Jahren stagnieren oder sinken, in einer unfassbar grausamen Welt voller Triebtäterinnen und Gewaltverbrecher, die es immer und überall auf unsere Kinder abgesehen haben: In Schulen, im Sportverein, in der Kirche, während des Urlaubs. Tage und Wochen werden solche Fälle unter dem Vorwand vorgeblicher Informationspflicht ausgeschlachtet. Das Grauen ist unvorstellbar – hier sehen Sie die Bilder dazu. Das ist zum Beispiel auch der Grund dafür, warum ich meinem Sohn versuchen musste zu erklären, wieso in den USA jemand in ein Kino geht und wahllos auf Leute schießt. Aufgeschnappt hatte er es nämlich schon.
Nichts liegt mir ferner als die Dinge verharmlosen zu wollen. Aber es muss doch irgendetwas zwischen blinder Ignoranz und heilloser Panik geben. Immerhin leben wir mit unseren Kindern mehrheitlich darin – also irgendwo dazwischen. Zwischen heiler Bullerbüwelt und unkalkulierbaren Gewaltexzessen. Da die Medien auch in Zukunft ihre Auflagen damit machen werden, Ausnahmen in Regelköpfe zu hämmern, und die meisten Eltern den Tatort unterhaltsamer finden als einen ausführlichen Bericht über ein friedliches Pfadfindertreffen, werden wir uns diesbezüglich wohl selbst helfen müssen, um unseren Kindern die Wahrheit sagen zu können. Ja, es stimmt: Unschuldigen Menschen passieren manchmal furchtbare Dinge. Geht niemals mit irgendwem mit, ohne uns vorher zu fragen – auch wenn ihr den- oder diejenige kennt. Niemand hat das Recht, euch zu bedrohen. Und eure Körper gehören euch allein und niemandem sonst. Darüber hinaus macht euch nicht so viele Sorgen und habt so viel Spaß wie es geht.
So wie mein Sohn, der am selben Tag kurz nach sechs noch vor die Tür ging, um bis zum Essen zu spielen. Er rollerte glücklich durch die Fußgängerzone, malte Pflastersteine mit Kreide an, jagte Tauben fort und strolchte eben rum. Irgendwann klingelte es an der Haustür und ein besorgter Herr teilte mir mit, wie unverantwortlich es doch wäre, meinen Sohn draußen allein zu lassen. Wenn es das erste Mal gewesen wäre, dass so etwas passiert, hätte ich vielleicht nur gesagt: Ja danke, schicken Sie ihn mir halt hoch! Aber das geschieht häufiger. Also bin ich runtergegangen und hab dem Herrn, der es wirklich nur gut meinte, mal ein paar Fragen gestellt. Was für ein Setting bräuchte es denn noch, damit mein Sohn draußen spielen darf? Wir haben hier eine Kleinstadtfußgängerzone, er ist direkt vor dem Haus. Wo haben Sie eigentlich als Kind gespielt? Ja, genau! Und wo ist da der Unterschied?
Ob er auch zu den Menschen gehört, die sich herzlich gern darüber beschweren, dass die Kinder von heute nur noch zu Hause vor dem Fernseher oder dem Computer sitzen, hab ich dann nicht mehr gefragt. War auch irgendwie nicht mehr nötig.
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Über den Autor: Nils Pickert ist gebürtiger (Ost-)Berliner, lebt und arbeitet als freier Autor und Texter in Süddeutschland. Er ist passionierter Koch und Vater zweier Kinder.
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Kommentare
Ziemlich gut...
Hallo Herr Pickert,
ihren Text finde ich sehr treffend. Obgleich mein Sohn erst 5 Monate alt ist und die Fragen "Wie weit dar er eigentlich vom Haus entfernt alleine `herumstrocheln´?" usw noch nicht akut sind, was wohl mit seiner mangelnden Mobilität zusammenhängt, stellen meine Frau und ich uns, quasi präventiv, genau solche Fragen. Und das nicht immer mit einem Ausgang den man getrost als Konsens bezeichnen könnte. Ich finde es toll, dass Sie das auch etwas unaufgeregter sehen, was mich ein wenig bestätigt. Natürlich kann man über das ein oder andere in epischer Breite diskutieren, aber ein wenig mehr "tief durch die Hose atmen" wird den Kurzen bestimmt nicht schaden. Bei mir ist es jedenfalls gut gegangen, auch wenn ich das ein oder andere mal aus einem Baum "gesegelt" bin....