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Anspruch und Wirklichkeit

Moderne Eltern tappen immer häufiger in die Hochbegabungsfalle. Sie wünschen sich ein überdurchschnittlich intelligentes Kind und stecken es in Förderprogramme, bis es endlich hochbegabt wirkt. Dabei ist echte Hochbegabung sowohl für die Eltern als auch für das Kind mit großen Belastungen verbunden.

Hochbegabte Kinder

Als meine Tochter gerade einmal 2 Wochen in die Schule ging, flatterte ein Brief von einem Sommerhochbegabtencamp ins Haus, mit der Aufforderung, ich möge mir endlich einen Ruck geben, um das außergewöhnliche Talent meines Kindes zu erkennen und es in einem speziellen Ferienlager fördern zu lassen. Während viele Eltern, mit denen ich darüber sprach, glänzende Augen bekamen und in dieses typische Meerschweinchengefiepe verfielen, dass erwachsene Menschen produzieren, wenn ihr Nachwuchs dabei ist, die Altersgenossen in den Schatten zu stellen, waren einige darüber so bestürzt wie ich. Seit wann sind Eltern dazu qualifiziert, über die mögliche Hochbegabung ihrer Kinder zu entscheiden? Dass wäre ja so, als würde man Winnie Puuh festlegen lassen, wo im Hundert-Morgen-Wald am besten der Honig vor hungrigen Kuschelbären versteckt werden sollte.

Bei Eltern handelt es sich doch zumeist um jene Kreaturen, welche die Hochbegabung ihres Kindes wirklich ausgesprochen früh erkannt haben („Mein Sohn ist ein Feinmotoriker!“ „Nein, dieser fixierte Blick!“) und ihr jetzt einfach nur entgegenkommen, damit der Rest der Welt sieht, was doch offensichtlich ist. Aus  normalen Mädchen und Jungen sollen vermittels Frühenglisch, Mathematikförderung, Sprachtraining und Malunterricht kleine Überflieger werden. Aber wieso eigentlich? Was ist an einem hochbegabten Kind eigentlich so toll?
Toll ist offensichtlich die Vorstellung, dass Kinder den Anforderungen der modernen Leistungsgesellschaft quasi per Geburt entsprechen. Nicht durch Erlernen, Konflikte, Mühe und Scheitern, sondern durch ihre Begabung. Denn die meisten Eltern wünschen sich nun mal, dass ihr Kind es einmal besser haben soll als sie und erinnern sich mit Schrecken an Kurvendiskussionen, Deutschnachhilfe und die wöchentlichen Klavierstunden. Wäre es da  nicht schön, wenn sich der Sprössling das Wissen der Welt aneignet wie die Luft zum Atmen? Einfach weil sie gar nicht anders können. Rechnen zum Beispiel.

Meine siebenjährige Tochter hat neulich während einer langen Zugfahrt die Zahl 19 solange mit 2 multipliziert bis sie auf 19456 gekommen ist, was den jungen Mann, der ihr gegenübersaß und für die letzte Rechnung einen Taschenrechner benötigte, natürlich gehörig beeindruckte. Sie wusste auch, dass man diese Zahl nicht sauber durch 3 teilen kann. Trotzdem ist sie nicht hochbegabt. Sie hat Zahlen lediglich als Interesse entdeckt und bittet uns regelmäßig, ihr Rechenaufgaben zu stellen. Angespornt von Lob und Erfolg werden die Aufgaben komplizierter und erweitern ihren mathematischen Horizont. Und so machen es viele Eltern. Sie versuchen offen für die Interessen ihres Kindes zu bleiben und sind mittels der heutigen Informationstechnologien in der Lage, das entsprechende Wissen zur Verfügung zu stellen. Naturfilme, Häusersprengung, Tanzschritte, philosophische Überlegungen – alles ist nur wenige Klicks entfernt und kann nicht nur erklärt sondern veranschaulicht werden. Was ist Zeit? Wie entsteht Musik? Wo beginnt der Horizont? Wann lebte der erste Mensch? Unsere Eltern hatten den Brockhaus. Wir haben Wikipedia, Youtube und zahlreiche andere Plattformen, die Kindern fast alles erklären können. Und darum ist Deutschland auch voll von kleinen Dinosaurierexperten, Rechenkünstlerinnen, Philosophen, Schachspielerinnen, Geigenvirtuosen und Malerinnen. Dieses Wissen allerdings mit Hochbegabung zu verwechseln, wäre allerdings ein fataler Fehler.

Denn Hochbegabung ist anstrengend. Hochbegabte Kinder können hinter ihrer Art, Wissen aufzunehmen ebenso wenig zurücktreten wie minderbegabte. Sie existieren außerhalb der Normalität und brauchen ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit und Betreuung. Oft stellen soziale Kontakte eine besondere Herausforderung für sie da. Und während nichtbetroffene Eltern weiterhin in Stoßseufzern die Hochbegabung ihres Kindes herbeisehnen, tauschen sich betroffene Eltern in Foren über ihre Kämpfe mit Schulen, Ämtern und nicht zuletzt ihren Kindern aus, die sie auslaugen und das familiäre Zusammenleben erschweren. Hochbegabte Kinder sind nicht einfach nur schlau, sie sind anders. Genau diese Andersartigkeit, gepaart mit der naiven elterlichen Sehnsucht nach, geradlinigen, lückenlosen und erfolgreichen Lebensläufen für die Kinder, ist es, die Hochbegabung erstrebenswert erscheint. Was wir erleben ist die Inflation der Hochbegabung und die massenhafte Sehnsucht danach, etwas Besonderes zu sein. Zugleich werden Bewegungsdrang, Konzentrationsmangel und Sprunghaftigkeit pathologisiert und abgelehnt.

Vielleicht sollten wir uns wieder verstärkt darum bemühen, auch den Durchschnitt zu würdigen und nicht das Überdurchschnittliche massenhaft vorauszusetzen. Dann wären unsere Kinder auch gefeiter vor Rattenfängern, die ihnen weismachen wollen, dass sie entweder Superstar werden oder Hartz IV beziehen. Und in den Stellenausschreibungen stünden nicht mehr so viele Gesuche für junge Reinigungskräfte mit Fremdsprachenkenntnissen, 10 Jahren Berufserfahrung und Auslandserfahrung. Dann hätten wir für uns und unsere Kinder einfach wieder mehr Raum, so zu sein, wie wir sind.  

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Über den Autor: Nils Pickert ist gebürtiger (Ost-)Berliner, lebt und arbeitet als freier Autor und Texter in Süddeutschland. Er ist passionierter Koch und Vater zweier Kinder.

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