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Verpuppung
Indianerjungen kennen keinen Schmerz und Mädchen werden bis zur Bewegungsunfähigkeit geschmückt wie ein Weihnachtsbaum. Indem wir unsere Kinder an Geschlechterklischees binden, fesseln wir sie. Warum tun wir ihnen und uns das nur an?
Gestern war ein wunderbarer Frühlingstag: Strahlend blauer Himmel, T-Shirt-Wetter und alles, was dazu gehört. Dazu in meiner kleinen Stadt noch verkaufsoffener Sonntag und Kinderfest mit Karussell, Clowns, Hüpfburg und mehr. Vielleicht liegt es ja an mir, falls ich solche Tage trotzdem nicht genießen kann. Aber wenn meine beiden Zwerge in der Hüpfburg herumtollen und sich neben mir ein kleines Mädchen in durchsichtigen Absatzpantöffelchen die Augen ausweint, weil ihr von der Mutter untersagt wird, mit den anderen hopsen zu gehen, bekomme ich schlechte Laune. Der jüngere Bruder durfte natürlich in die Hüpfburg – sollte sogar. Dem hatte man aber auch keine hochhakigen Fußfesseln und Armkettchen angelegt.
Das genaue Gegenstück zu so einer Hüpfburg entsteht gerade in Berlin. Barbies Traumhaus in Lebensgröße als 2500 Quadratmeter Erlebniswelt in pink. 12 € wird es für Kinder, 15 € für ihre Eltern kosten, in diesen Mädchen(alp)traum einzutauchen und noch ein paar Euros mehr, die angehenden Püppchen anschließend in Schminkkursen und Laufstegtraining auf ihre Karrieren als Germany’s Next Topmodel oder Superstar vorzubereiten. Und darüber brauchen wir uns gar keine falschen Vorstellungen zu machen: Dass die ganze Idee für Mädchen konzipiert wurde, steht außer Frage. In Barbies Welt wird diesen Mädchen gezeigt, wie es sich anfühlen wird, entdeckt zu werden und warum das für junge Frauen nach wie vor der weiblichste Weg ist. Ob man dabei von Männern, die Frau sich als Prinz imaginiert, entdeckt oder irgendwo vom Fleck weg für irgendeinen Zweck gecastet wird, ist nur nebensächlich. Dabei ist auch die Tatsache, dass Barbie seit einigen Jahren gut bezahlter Arbeit nachgeht und sogar als Präsidentin kandidiert, nicht wirklich tröstlich. Denn was passiert, wenn wir unsere Mädchen in Barbies verpuppen, hat man längst herausgefunden.
Inzwischen können wir wissen, wenn wir es denn wissen wollen, dass Mädchen, die mit Barbiepuppen spielen, über ein geringeres Selbstbewusstsein und einen größeren Wunsch nach einem schlanken Körper verfügen als ihre barbiefreien Altersgenossinnen. Darüber hinaus haben sich vor einigen Jahren Mediziner und Medizinerinnen die Mühe gemacht herauszufinden, wie es um Barbies Gesundheit bestellt sein müsste, wenn sie ein realer Mensch mit den entsprechenden Puppenproportionen wäre.
Ergebnis: Das Weiblichkeitsvorbild von Millionen von Mädchen würde in Fleisch und Blut unter Arthrose, Hüftdysplasie und Bandscheibenvorfällen leiden. Sie hätte Hammerzehen und ein Hohlkreuz. Sie wäre kurzatmig, aller Wahrscheinlichkeit nach unfruchtbar und hätte im Alter aufgrund von Osteoporose mit einem Knochenbruch nach dem anderen zu kämpfen.
Diese Frau wäre nicht frei. Sie könnte ihren Zielen nicht nachjagen, sondern ihnen bestenfalls hinterher stöckeln. Für alles andere fehlte ihr die nötige Puste und das richtige Schuhwerk. Die Wahl, Kinder zu bekommen, hätte sie nicht. Die Jobs, für die sie als Puppe in letzter Zeit zumindest die richtigen Outfits bekommen hat, könnte sie nicht machen, weil sie gar nicht in der körperlichen Verfassung dazu wäre. Und der Besuch einer Hüpfburg wäre überhaupt das Allerletzte. Warum sollte man Mädchen das antun wollen?
Eine Barbiepuppe funktioniert ganz ähnlich wie Pornographie. Sie ist geradezu obszön geschichts- und zusammenhangslos. Sie legt keine Wege zurück und stößt auf keine Widerstände. Sie ist ein plakatives Versprechen, dessen ganze Wirkungsmacht lediglich sehr erfolgreich behauptet wird. Und so ist das eine angeblich der Inbegriff von Schönheit, während das andere vorgibt, der Inbegriff von geilem Sex zu sein. Wenn wir nicht sehr aufpassen, dann erliegen wir diesen Produkten, weil wir anfällig für solche Versprechungen von bruchlosen, schnell umsetzbaren Überbiographien sind: Mein Haus, mein Auto, mein Pferd. Mein unrealistischer Körper, mein absurdes Sexualleben.
Zudem brauchen Menschen Schubladen. Wenn wir nicht in der Lage sind, Dinge und Personen einzuordnen, dann werden wir missmutig und beginnen uns zu fürchten. Wir verfügen über Unmengen von Schubladen. Aber wo steht eigentlich, dass man alles immer an den gleichen Ort stecken muss, in die gleichen Kostüme in die gleichen Zwänge? Wir könnten Dinge und Personen doch auch mal woanders ablegen. Einfach die Frühlingsstimmung nutzen und feste Ansichten sowie Vorurteile kräftig durchmischen und neu verteilen: Jungs sind zickig aber sozial intelligent. Mädchen zappeln und raufen immer. Frauen können nicht zuhören und Männer schlecht einparken. Vielleicht merken wir dann ja, wie absurd einige unserer Überzeugungen sind und stopfen überhaupt nichts mehr in die entsprechenden Schubladen, sondern in andere, nicht so menschenverachtende.
Das Mädchen durfte übrigens irgendwann doch noch auf die Hüpfburg. Vier andere Mädchen, einschließlich meiner Tochter rempelten da schon quietschend gegen die Innenwände und der jüngere Bruder rief immer wieder nach seiner Schwester. Was dann folgte war eine Art Entpuppung – als würde man eine Barbie ausstaffieren, nur rückwärts. Schuhe, Ringe, Ketten, Spängchen, der ganze Tand und Flitter wurde entfernt. Bis schließlich nur noch ein glückliches kleinen Mädchen dastand, dass 10 Minuten später unter der Schminke genauso rote Wangen hatte wie alle anderen Hüpfekinder auch. Das haben ich und meine inzwischen viel bessere Laune genau gesehen.
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Über den Autor: Nils Pickert ist gebürtiger (Ost-)Berliner, lebt und arbeitet als freier Autor und Texter in Süddeutschland. Er ist passionierter Koch und Vater zweier Kinder.